Gelasius I.: Die beiden »Schwerter« der Weltregierung

Gelasius I.: Die beiden »Schwerter« der Weltregierung
Gelasius I.: Die beiden »Schwerter« der Weltregierung
 
Mit dem Verfall des Weströmischen Reiches hatten die Päpste im 5. Jahrhundert an politischem Gewicht gewonnen, und entsprechend selbstbewusst traten sie gegenüber dem oströmischen Kaisertum auf. Als Kaiser Anastasios I. im letzten Jahrzehnt des 5. Jahrhunderts in einen kirchlichen Lehrstreit eingriff, traf er auf den entschiedenen Widerstand des Papstes Gelasius I. Der berühmte »Gelasiusbrief« von 494 beschreibt das Verhältnis zwischen weltlicher und geistlicher Macht mit folgenschweren Worten: »Zwei nämlich sind es, erhabener Kaiser, von denen diese Welt hauptsächlich regiert wird: die geheiligte Autorität der Bischöfe und die königliche Gewalt. Unter diesen beiden wiegt die Last der Priester um so schwerer, als sie dem Herrn im göttlichen Gericht auch für die Könige Rechenschaft ablegen müssen.« Wenn also der Herrscher durch sündhaftes Verhalten sein Seelenheil aufs Spiel setzt, muss er sich vom Priester zurechtweisen lassen.
 
Aus den gelasianischen Anschauungen entwickelte sich die »Zweischwerterlehre«, die das politische Denken des Mittelalters entscheidend prägte. Dabei griff man auf eine Begebenheit zurück, die der Evangelist Lukas im Rahmen der Leidensgeschichte überliefert (22,3 ̄ 5-38): Nach dem letzten Abendmahl deutet Jesus in bildlicher Rede sein bevorstehendes Ende an. Die Jünger sagen zu ihm: »Herr, siehe, hier sind zwei Schwerter.« Und Jesus antwortet: »Es ist genug.«
 
Der erste, der die schwierigen Lukasverse als politische Aussage verstand, war Alkuin, ein enger Vertrauter Karls des Großen. Mit den beiden Schwertern, schrieb er um 798, seien Leib und Seele gemeint; Gott habe die Zuständigkeit für beides in die Hände des Herrschers gelegt. Alkuins Ausführungen scheinen ganz auf Karl den Großen zugeschnitten, der auch in Glaubensfragen seinen Einfluss geltend machte. Seit dem 11. Jahrhundert wurde die Einmischung des Königs in kirchliche Angelegenheiten zunehmend als Problem empfunden. Petrus Damiani, ein streitbarer Anhänger des Reformpapsttums, gab dem Schwerterpaar eine neue Deutung, indem er es auf »Regnum« (= Königtum) und »Sacerdotium« (= Priestertum) bezog. Beide Gewalten sollten sich in friedlichem Miteinander ergänzen, »damit das Schwert des Priesters das des Königs besänftigt und das Schwert des Königs das des Priesters schärft.»
 
Im Investiturstreit des 11. und 12. Jahrhunderts verschoben sich die Gewichte zugunsten des Papsttums. Dennoch kann man Heinrichs IV. Gang nach Canossa im Jahr 1077 nicht einseitig als Niederlage bewerten. Mit seinem Bußakt vor Papst Gregor VII. appellierte der König gerade an jene seelsorgliche Verantwortung, die laut Gelasius den Vorrang des Priesteramtes begründete. So erzwang er die Aufhebung des Kirchenbanns und gewann dadurch den dringend benötigten Handlungsspielraum zurück. Im Umkreis Heinrichs IV. wurde die Zweischwerterlehre als politische Waffe eingesetzt. Der Hofkleriker Gottschalk warf Gregor VII. vor, er wolle das Regnum seiner Würde berauben und nur noch das Schwert des Priesters gelten lassen. Das widerspreche aber den Worten Jesu, der ausdrücklich zwei Schwerter als genügend erachtet habe.
 
Nach dem Ende des Investiturstreits führte der Zisterzienserabt Bernhard von Clairvaux einen neuen Gesichtspunkt in die Diskussion ein: Bei der Gefangennahme Jesu habe Petrus sein Schwert gezückt und einem Diener des Hohen Priesters das rechte Ohr abgehauen. Den Päpsten als Petri Nachfolgern stehe daher neben dem geistlichen auch das materielle Schwert zu. Allerdings habe Jesus sogleich befohlen, das Schwert wieder in die Scheide zu stecken. Diese Waffe dürfe also nicht vom Priester selbst, sondern nur stellvertretend vom weltlichen Amtsträger benutzt werden. Bernhards eigenwillige Auslegung ließ manche Frage offen. Warum wurde nur eines der beiden Schwerter gezogen? Und welchem Jünger war das zweite Schwert anvertraut? Nicht zufällig bevorzugte der juristisch geschulte Papst Innozenz III. Anfang des 13. Jahrhunderts einen anderen Vergleich: Wie der Mond sein Licht der Sonne verdanke, sei das Regnum dem Sacerdotium untergeordnet.
 
Ihre äußerste Zuspitzung erfuhr die Zweischwerterlehre unter Papst Bonifaz VIII. In seiner Bulle »Unam sanctam« von 1302 heißt es, die Kirche verfüge ebenso über das geistliche wie über das materielle Schwert. Das erste sei »von der Kirche«, das zweite »für die Kirche« zu handhaben. Der geistlichen Gewalt obliege es, die irdische einzusetzen und bei Verfehlungen zu richten. Mit der politischen Wirklichkeit des 14. Jahrhunderts waren solche Forderungen nicht mehr vereinbar. Unter französischem Druck mussten die Päpste ihre Residenz nach Avignon verlegen; auf die Rückkehr nach Rom folgte ein jahrzehntelanges Schisma. Von allem unbeeindruckt, hat das Papsttum bis zum Ende des Mittelalters am Anspruch auf die beiden Schwerter festgehalten.
 
Dr. Michael Oberweis
 
 
Hage, Wolfgang: Das Christentum im frühen Mittelalter (476—1054). Vom Ende des weströmischen Reiches bis zum west-östlichen Schisma. Göttingen 1993.

Universal-Lexikon. 2012.

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